Julian - 2

-3-

Anna schlief in dieser Nacht sehr unruhig. Ständig wachte sie auf und machte sich Sorgen um Juli, er wollte sich doch noch mal melden.
Um 7 Uhr wurde Anna aus dem Schlaf gerissen. Sie hörte das Telefon klingeln und wie ihre Mutter den Hörer abnahm. Sie fragte sich, wer um diese Zeit anrief. Ob es Juli war ? Aber Juli würde nicht an einem schulfreien Tag so früh anrufen und wenn doch, würde er garantiert auf Annas eigenen Anschluss anrufen, um die Familie nicht zu wecken.
Anna fühlte, wie ihr Herz anfing zu rasen. „[i]Hoffentlich ist Juli nichts passiert,“[/i] dachte sie noch und hörte wie sich Schritte ihrer Zimmertür näherten. Vorsichtig klopfend trat ihre Mutter in das Zimmer. Sie war blass und schaute Anna mitleidig an. „Mama, was ist denn los, ist etwas passiert?“, fragte Anna entsetzt. So hatte sie ihre Mutter lange nicht mehr gesehen. Frau Jansen setzte sich zu Anna aufs Bett und strich ihr übers Haar, „Hör zu mein Schatz, du hast recht, es ist etwas passiert. Gestern Abend, gegen halb elf hat man Juli am Bach gefunden.“ Sie machte eine lange Pause. „Schatz, ich weiß, du hattest ihn sehr gern, aber du wirst das schaffen. Wenn du reden möchtest, ich bin für dich da.“ „Aber,“ Anna rang nach Fassung, „ was ist passiert ? Hat er sich verletzt ? Wo ist er denn?“ „Anna, Julian ist tot ! Seine Mutter hat mich eben angerufen und wollte uns die Nachricht überbringen.“ Anna saß reglos auf ihrem Bett und rang nach Fassung.
„Juli kann nicht tot sein Mama, er hat mir versprochen heute mit mir zusammen zu lernen. Er hat es mir versprochen, es muss ein Missverständnis sein, sicher!“
„Nein Liebling, gewiss nicht.“ Frau Jansen stand auf und ging. Wie, als sei sie meilenweit entfernt, hörte Anna die Stimme ihrer Mutter, das sie Frühstück machte.

Anna brachte keinen Bissen runter. Immer wieder ging ihr durch den Kopf was am Vorabend passiert war. Das Micha so wütend war. „Was ist passiert Mama?“ irritiert stellte Anna ihrer Mutter die Frage und wunderte sich selbst, warum sie erst jetzt begann sich zu fragen warum Juli tot war. „Man weiß es noch nicht genau. Die Polizei nimmt an, er habe sich selbst umgebracht, aber er hatte nirgendwo sichtbare Verletzungen.“

Nach dem Essen entschloss sich Anna zu Micha zu gehen. [i]Er MUSS doch wissen was geschehen war. Natürlich, Juli ging es nicht gut, aber deswegen bringt er sich doch nicht um. Er muss gestürzt sein oder so etwas...aber Selbstmord? Nein, nicht Juli. Das darf einfach nicht sein ![/i]

Natürlich war Micha schon wach, denn auch er wurde angerufen.
Als Micha Anna sah, ging er sofort zu ihr. Doch er sah anders aus als sonst, verbittert, wütend aber nicht traurig. Anna kam es seltsam vor, trotzdem nahm sie ihn in dem Arm. „Hallo Micha, wie geht es dir ?“ fragte sie ihn behutsam. „Bestens, was sollte sein ?“ „Micha, dein bester Freund ist tot und du fragst was los ist ?“ Anna konnte es nicht fassen, es schien ihr, als sei es Micha wirklich egal was passiert war.
„Ich weiß, na und ? Ehrlich gesagt, nachdem was er mir gestern angetan hat, ist es besser so !“
Fassungslos starrte Anna ihn an, nur stotternd konnte sie ihn fragen was geschehen sei.
„Wir haben uns gestritten. Ich habe Julian gesagt was Sache ist und bin gegangen. Er wollte noch zum Bach gehen, aber das war mir egal. Überhaupt muss ich gleich weg, ich soll zur Polizei gehen und denen den scheiß auch sagen.“

Verzweifelt lief Anna durch die Strassen. Sie fragte sich immer wieder was passiert sei, warum Micha seinen besten Freund plötzlich so sehr hasste, dass ihm sein Tod egal war. Ohne es zu bemerken stand Anna plötzlich vor dem Haus der Familie Michels. Sie zögerte nur kurz und klingelte dann. Johanna öffnete ihr die Tür und ließ sie hinein. Frau Michels saß im Wohnzimmer auf der Couch, ihr Mann stand am Fenster und starrte hinaus. „Hallo,“ mehr brachte Anna nicht raus, sie kämpfte gegen ihre Tränen an. Erschrocken drehte sich Herr Michels um und schaute Anna an. Ein Lächeln war auf seinem Gesicht zu erkennen. „Hallo Anna! Schön das du gekommen bist. Den ganzen Tag hat sich noch keiner bei uns gemeldet. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es mich freut, das irgendwer sich doch noch für unseren Jungen interessiert.“ Er machte eine lange Pause und ging dann auf Anna zu. „Den ganzen Tag über seh ich die Nachbarn wie sie tuscheln und wie sie zu ,unserem haus starren und reden. Tut mir leid, setz dich Kind.“ „Was ist bloß passiert?“, Anna brach in Tränen aus.

Anna blieb bis es dunkel wurde. Sie half Frau Michels den Haushalt zu machen, nur um sich abzulenken und sie beschäftigte sich mit Johanna, die mit ihren 6 Jahren noch nicht verstehen konnte was geschehen war.
Als Anna später allein in ihrem Zimmer saß legte sie eine CD von Juli ein, die er ihr einmal geschenkt hatte. Es war Soul. [i]Natürlich Soul![/i] Anna musste lächeln.
Als sie die Musik hörte dachte sie wieder an Juli und an das, was seine Eltern ihr erzählten.
Juli wurde gestern Abend am Bach unter der großen Trauerweide gefunden. Es war sein Lieblingsplatz, hierhin ging er immer um nachzudenken, denn von hieraus hatte man einen atemberaubend schönen Blick auf die Berge. Der Bach war nur ein paar hundert Meter von dem Wohngebiet indem Juli, Micha und Anna wohnten entfernt, lag aber ein Stück außerhalb des Ortes. Wie schon Micha gesagt hatte, war er auch gestern Abend hierher gegangen. Als man ihn fand, lag er auf dem Rücken unter dem Baum und hatte seine Arme hinterm Kopf verschränkt. Er sah wohl so aus, als würde er beim Dösen eingeschlafen sein.
Irgendwann als es kühler wurde, wollte ihn ein Spaziergänger wecken, damit er sich nicht erkältet, doch da war er schon tot. Die Polizei vermutet, das er Tabletten geschluckt hat und sich damit umbrachte. Mehr erfuhren die Eltern auch erst am nächsten Tag, aber sie versprachen, das sie sich bei Anna melden würde, sowie sie etwas erfuhren.

-4-

Wie in Trance stand Anna am nächsten Morgen auf und ging zur Schule. In der ersten Stunde war Leistungskurz Deutsch, jenes Fach, das sie gemeinsam mit Juli belegt hatte. Als Anna sich auf ihren Platz setzte und sie schräg vor sich Julis leeren Platz sah, spürte sie schlagartig, das etwas fehlt.
Der Lehrer kam in die Klasse, der nicht anzumerken war das jemand fehlte. Es war, so schien Anna, als sei Juli nur krank und würde morgen wieder kommen. Herr Cellso Setze sich auf den Tisch und senkte den Blick. Ihr Deutschlehrer war ein großer, stattlicher Mann, der aus einer Großstadt hierher zog und er war einer der wenigen hier, die Julis Sehnsüchte verstanden und ihn nicht als einen Aussätzigen betrachteten. Für Herrn Cellso war Juli ein ganz normaler Schüler wie jeder andere auch. In sich zusammengesunken saß er auf dem Lehrerpult und begann mit leider Stimme zu sprechen.
"Leute, kommt, setzt euch. Ich muss euch eine traurige Mitteilung machen." Schlagartig verstummte die Klasse und Anna merkte wie sie von allen Seiten angeschaut wurde. "Ein paar von euch werden es bestimmt schon gehört haben. Einer eurer Mitschüler, Julian Michels, ist am Diensttagabend tot aufgefunden wurde. Noch ist es unklar woran genau er gestorben ist, trotzdem möchte ich mit euch darüber sprechen. Ich möchte euch und vor allem Anna, die Julian sehr nahe gestanden hat, die Möglichkeit geben über eure Gefühle zu sprechen. Natürlich bin ich auch jederzeit nach dem Unterricht für euch als Gesprächspartner da, wenn ihr das wünscht."
"Ich hab gehört der Spinner hat sich selbst ins Jenseits befördert", ergriff Andreas das Wort. "Bestimmt wollte er sich vor der Mathestunde heute drücken", rief jemand anderes hinein "oder seine Haarfarbe war leer." Die Klasse begann zu lachen und Anna unterdrückte an ihrem Tisch die aufsteigenden Tränen.
"Ruhe!" erhob Herr Cellso verärgert das Wort "Was fällt euch ein, so über einen toten Mitschüler zu reden ? Habt ihr denn überhaupt keine Moral ?" er war zornig, das sah und hörte man sofort. "Anna, möchtest du etwas sagen, du kanntest ihn schließlich am besten und es wird dir bestimmt helfen, wenn du über deine Gefühle redest."
Anna schaute vor sich auf den Tisch. Mit zitternder Stimme begann sie zu sprechen. "Juli, er war. Keiner von euch hat ihn gekannt oder sich auch nur ansatzweise für ihn und seine Meinungen und Vorstellungen interessiert. Er war ganz anders als ihr alle denkt. Er war liebevoll, intelligent und wusste genau was er wollte. Im Gegensatz zu euch hat er SEIN leben gelebt und er hat es geliebt. Nicht das Leben hier in diesem Ort, aber das Leben in all seinen Blickpunkten hat er geliebt. Menschen wie ihr und eure Familien haben ihm seine Lebensfreude genommen, indem er nicht so sein durfte wie er wollte." Weinend hörte Anna auf zu sprechen. Für einige Augenblicke war es totenstill in der Klasse, bis Herr Cellso wieder das Wort ergriff.

Wie in dieser Stunde, verlief der ganze Tag. Überall wurde über Juli geredet, plötzlich hatte jeder etwas zu ihm zu sagen und überall wurde spekuliert weshalb er sich umbrachte. Die einen meinten zu wissen, es hätte einen Abschiedsbrief gegeben, andere sagten, er hat sich erschossen oder von einer Brücke gestürzt. Fast jeder aber zog seinen Tod ins lächerliche.

Auf dem Nachhauseweg traf Anna Frau Lehwald, Julis Nachbarin, die ihn von Geburt an kannte. Ihre Worte trafen Anna besonders ins Herz. Zeitweise war Frau Lehwald wie eine Mutter zu Julian gewesen, jeden Nachmittag passte sie auf ihn auf, wenn Frau Michels ihre Einkäufe und Arzttermine erledigte. Aber, sie war auch die größte Tratschtante im Dorf.

"Vielleicht ist es besser so, er war doch nur faul und hat seiner Familie auf der Tasche gelegen, sie ständig ins Gerede gebracht und ein schlechtes Vorbild für die kleine Johanna war er auch. ja, in wenigen tagen, wird kein Mensch mehr über Julian reden, da hat seine Familie endlich ihren Frieden."
Anna rang um Fassung und es fiel ihr schwer, ihr nicht die Meinung ins Gesicht zu schreien. "Wie sie meinen," sagte Anna wortlos "und einen schönen Tag noch."
Mit gesengtem Blick ging Anna zu Julian Familie, sie hatte versprochen sich auch heute etwas um Johanne zu kümmern. Doch es kam anders.
Bei Julis Eltern war grade die Polizei, die die Familie über den neusten Stand der Ermittlung aufklären wollte. Einer der Polizisten fragte sofort nach wer Anna sei und ob sie Juli gekannt habe. Sie erklärte, das sie neben Micha Julis beste Freundin gewesen sei und einer der Polizisten bat sie, noch etwas zu bleiben, sie würden Anna gerne ein paar Fragen stellen.

Das Gespräch mit der Polizei dauerte lang, zumindest kam es Anna so vor. Sie erfuhr, das Juli Schlaftabletten und Schmerzmittel nahm, von denen noch unklar war, woher er sie bekam. Und man hatte tatsächlich einen Abschiedsbrief gefunden.

Anna wurde befragt ob sie sich erklären könnte wieso Juli sich umbrachte, aus seinen Abschiedsbrief ging es nicht eindeutig hervor.
War er deprimiert, gab es Anzeichen für einen bevorstehenden Selbstmord, war er traurig, wütend, hatte er Angst ? Viele Fragen die Anna nur schwer beantworten konnte. Viele Fragen, die in Anna neue Fragen aufwarfen.
Hätte sie seinen Tod erahnen oder gar verhindern können, hätte sie ihm mehr bei seinen Problemen helfen sollen und was hätte sie alles anders tun können ?
Als Anna nach Hause ging begann es bereits zu dämmern und wie einen Schatz hielt sie eine Kopie des Abschiedsbriefes in der Hand.

-5-

He ihr !

Was soll ich sagen ? Jetzt ist es vorbei, ich bin endlich frei ! Ich weiß, ich habe eine feige Methode dafür gewählt um frei zu sein, aber es ist die einzigste die mir noch geblieben ist. Nun wird mich niemand mehr verachten und über euch reden, keine Schulsorgen mehr und vor allem nicht mehr eingesperrt in diesem Kaff.
Eine Bitte habe ich an euch: Begrabt mich bitte oben auf dem Berg, von dort hat man eine herrliche Aussicht und spielt bitte "Freiheit" und dazu noch irgendein fröhliches Lied, denn ich will nicht das ihr weint, sondern ihr sollt euch freuen, dass endlich mein Traum frei zu sein in Erfüllung gegangen ist.

Liebe Mama, lieber Vater,

bitte verzeiht mir. Verzeiht mir, das ich der Familie soviel Kummer bereitet habe, verzeiht mir, das ich euch ein schlechter Sohn war und damit die Familie ins Gerede gebracht habe, verzeiht mir, wenn ihr wegen mir geächtet worden seit und verzeiht mir alles, was schief gelaufen ist und was ihr noch über mich erfahren werdet.
Auch wenn es euch vielleicht schwer fällt zu glauben, ich wollte euch nie Kummer bereiten. Ich liebe euch.
Vor allem aber akzeptiert bitte meine Entscheidung und lasst euch nicht vom Gerede der anderen beeinflussen.

Liebe Johanna !

Kleines Schwesterchen, du weißt gar nicht wie viel du mir bedeutest. Früher hab ich immer deine Windeln gewechselt und mit dir gespielt. Leider wirst du dich nie daran erinnern können.
Ich möchte dir nur sagen, das du so bleiben sollst wie du bist, so fröhlich und offen. Sehe der Welt immer mit offenen Augen entgegen und lass dir von niemanden deine Träume nehmen, sondern verwirkliche sie ! Geh lachend in die Welt und lass dir dieses Lachen auch von niemanden nehmen.
Ich werde immer bei dir sein und dich unterstützen !

Lieber Micha !

Du weißt was ich dir sagen möchte, bitte verzeih mir. Ich kann nix dafür ! Es ist halt passiert! Vergiss mich nicht.

Anna...meine Anna...

Ich weiss nicht was ich dir sagen soll. Egal was war , du warst immer für mich da und hast mir zugehört und geholfen. Mit deiner liebevollen und humorvollen Art hast du mich immer wieder zum lachen gebracht und mir <Mut gemacht. Sei es im bescheuertem Mathematikunterricht oder im Leben.
Du hast mir immer zugehört und zu mir gestanden. Wenn du nicht gewesen wärst, ich hätte schon viel früher aufgegeben.
Mach dir bitte keine Vorwürfe, du kannst nichts dafür und du hättest meine Entscheidung auch nicht ändern können. Tu mir den Gefallen und bleib so weltoffen und fröhlich wie du bist, so wirst du alles erreichen was du dir vornimmst.
Geh für mich durch die Welt !


Wir werden geboren um zu leben
wir leben um zu sterben
und wir sterben fürs ewige Leben.

In Liebe und Dankbarkeit

Julian

Aktuelle Beiträge

Ihr werdet es nicht merken!
Warum merkst du nicht das dein Kind missbraucht wurde? Die...
Naddi_1984 - 7. Okt, 19:05
verletzte gefühle
Verletzte Gefühle Wisst ihr, wie das ist morgens...
Naddi_1984 - 7. Okt, 19:03
Mutter
An deine Mutter Öffne die Augen, sieh genau hin, denn...
Naddi_1984 - 7. Okt, 19:03
falsche Gefühle
Bist du schuld daran, dass du träumst? Nein, bin ich...
Naddi_1984 - 7. Okt, 19:02
I still miss you..
Als wir uns das erste Mal sahen habe ich dich nichtmal...
Naddi_1984 - 11. Feb, 21:18

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Links

Suche

 

Status

Online seit 7174 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 7. Okt, 19:05

Credits


Gaestebuch
Gedanken...
Kindesmissbrauch
Papa
Poesie
Sammy
Songs
Stories
Suizid & Alkohol
Sven
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren