Julian - 1

Julian

Die Glocken läuteten. Es war 11 Uhr am Sonntag, die Messe war vorbei. In dem Café neben der Kirche fand sich die Gemeinde ein um noch einen Kaffee gemeinsam zu trinken. Es war laut im „Café zur Kirche“, denn es war, wie jeden Sonntag, voll und man unterhielt sich angeregt über den Gottesdienst, die Geschehnisse der letzten Woche und vor allem auch über den Dorfklatsch.
Hier herrschte noch die perfekte Idylle, keine Straftaten, die das Ansehen der Stadt verschlechterten und wenn es doch welche gab wurden sie totgeschwiegen. Hier kennt jeder jeden, man ist zusammen aufgewachsen und zur Schule gegangen und später hat man sich in den gleichen Vereinen der Stadt engagiert. So ist es nicht verwunderlich das der Klatsch und Tratsch des Dorfes hier nach der Messe, wo alle zusammentreffen, ein großes Thema darstellt. Was, wo, wann, wieso und wer mit wem ?

Als Julian mit seiner Familie das Café betrat und freundlich in die Runde gegrüßt wurde verstummten alle plötzlich für einen Moment.
Julian war groß und sportlich, er sah verdammt gut aus und hatte die Gabe, jeden mit seinen eisblauen Augen in den Bann ziehen zu können. Aber das war nicht der Grund, der die Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war vielmehr die Sensationslust der Gemeinde, denn wo nichts passiert muss man sich Stoff zu reden schaffen. Über Julian wurde oft und viel geredet.
Julian war das schwarze Schaf der Gemeinde. Einer der sich nicht damit abfinden wollte in dieser kleinen Welt in der Welt sein Leben lang eingeschlossen zu sein und sein Leben vorgeschrieben zu bekommen. Er träumte von Freiheit und rebellierte mit seinem Aussehen und seiner Meinung gegen diese Zwänge. Julian fiel auf, mit seinen giftgrünen Haaren und den Piercings war das auch nicht schwer. Überall wo er hinkam starrten ihn andere an. Er sagte dann oft „ Ihr seid nur neidisch und traut euch nicht euer Ding durchzuziehen. Ich leb mein Leben !“

Peinlich berührt von der plötzlich auftretenden Stille setzte sich seine Familie schnell zu den Nachbarn an den Tisch. „Wie der wieder aussieht“, hörte Julian seine Nachbarin Frau Saml, eine dicke Frau Anfang 50, sagen.
Im stillem wünschte er sich den Tag herbei, an dem er Andersberg verlassen konnte. Nicht nur für ein paar Stunden oder Tage, sondern für immer. Im nächsten Sommer, wenn er sein Abitur gemacht hat, wollte er nach Berlin. New York war zu weit weg, außerhalb seiner Grenzen, aber Berlin war fast greifbar nah und es war eine Alternative, wenn nicht sogar DIE Alternative überhaupt.

„Hey Looser!“, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Hinter ihm stand Micha und klopfte ihm auf die Schulter. Micha, eigentlich Michael, war sein bester Freund und fast genau das Gegenteil von Julian. Auf Micha flogen die Mädchen, nicht weil er besser aussah, das bestimmt nicht, sondern weil er angesehen war. Diesen Sommer hatte Micha sein Abi mit Glanznote bestanden, seine Eltern waren erfolgreiche Anwälte. Micha stand mit beiden Beinen fest im Leben, er wusste das er Jura studieren wird um in die Fußstapfen seiner Eltern zu treten und er war eingebildet. Schlecht sah er zwar nicht aus mit seinen schwarzen Haaren, den dunklen Dackelaugen und dem schlanken, aber relativ kleinen Körper, aber gegen Julian verblasste er. Trotzdem flogen Micha die Frauenherzen zu, einfach, weil er von den Eltern geliebt wurde und „Everybodies Darling“ zu sein schien. Juli, wie Julian genannt wurde, wurde von den Eltern gehasst, sie hatten Angst, er könne schlechten Einfluss auf ihre Töchter und Söhne haben.

Sonntags war Familientag.

Familie Michels blieb nicht lange, sie gingen bald nach Hause, denn die Blicke, die ihr Sohn auf sich und damit auf die Familie zog, waren ihnen unangenehm.
„Zu Hause“ hieß in Andersberg ein Einfamilienhaus in einer ruhigen Seitenstrasse von einer der 4 Hauptstrassen, die von dem zentralen Platz abgingen auf der die Kirche stand. Jedes dieser Häuser hatten einen kleinen, bunt bepflanzten Vorgarten und hinterm Haus war immer ein großer Garten mit Hecken und Blumen und einen idyllischen weißen Gartenzaun drum herum.
An diesem Tag war es herrlich warm draußen und so servierte Frau Michels das Essen für ihre Familie auf der Terrasse hinterm Haus. Sonntags blieb immer die ganze Familie zusammen, es wurde zusammen gefrühstückt und anschließend gemeinsam der Gottesdienst besucht, danach zum üblichen Treffen im Café gegangen und schließlich zu Hause gemeinsam gegessen und der Tag verbracht. An diesem besonderen Tag der Woche war die Familie heilig, wie woanders nur an seltenen Feiertagen im Jahr.

Am Abend saß Juli allein in seinem Zimmer und hörte Musik. Soul. Er liebte Soul und black music. Sein Blick glitt über das Kreuz an der Wand hinüber zu den Postern. Sie alle zeigten die Skyline von New York, nur aus verschiedenen Perspektiven. Juli schaute aus dem Fenster. Draußen war es mittlerweile dunkel geworden und es regnete. Er hörte wie die Regentropfen auf die Fenster seines Zimmers prasselten und er hörte den Wind um die Häuser pfeifen. In Juli kam das Gefühl auf, die Welt würde untergehen, wahrscheinlich aber nicht die ganze Welt, sondern nur Andersberg und mit Andersberg würde auch er untergehen und er wäre auf ewig in dieser perfekten Idylle gefangen.
Juli setzte sich wieder auf sein Bett, von unten hörte er seine sechsjährige Schwester Johanna lachen. Juli drehte die Musik lauter und fing an zu träumen.
Wie sooft träumte er von New York und von Berlin. Wie würde es wohl sein wenn er endlich da sein würde? Endlich würde nicht mehr jeder seiner Schritte und Handlungen überwacht und kommentiert werden, er könne einfach aufstehen und hingehen wohin und mit wem er wollte, in die Disco, die es hier ja nicht gab, ans Wasser, auch wenn’s nur ein See war, oder zu Freunden, die er hier ja kaum hatte. Es würde kaum jemanden interessieren.

Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Träumen. Juli drehte die Musik leiser als sein Vater das Zimmer betrat.
„Mach bitte die Musik leiser, Johanna muss ins Bett. Am besten nutzt du jetzt mal die Gelegenheit und lernst für deine Klausuren.“ Julian antwortete tonlos, nur zu gut kannte er die Diskussionen um gute Noten mit seinen Eltern. Dabei gab Juli sich wirklich Mühe gute Noten nach Hause zu bringen, aber es fiel ihm sichtlich schwer den Stoff zu verstehen. „Und noch was, nimm wenigsten in der Kirche deine Ringe aus dem Gesicht, du weißt genau wie die Nachbarn reden. Was sollen sie von uns halten ? Du machst uns mit deinem Verhalten manchmal wirklich zum Gespött der Stadt.“ Ohne auf Antwort zu warten schloss er die Tür hinter sich und ließ Juli allein, wie sooft.
„Was interessieren mich die Meinungen dieser Lästermäuler“ knurrte Juli und sein Blick fiel abermals auf das Kreuz, das gut sichtbar an der Wand hing, „Und die Kirche interessiert mich auch einen Dreck!“

Julian war in der letzten Klasse, dieses Jahr würde er sein Abitur machen. In der 1. Stunde hatte er an diesem Montag Leistungskurs. Mit ihm im Kurs war einer seiner wenigen Lichtblicke in diesem Nest: Anna. Anna war ebenfalls 19 und hatte lange blonde harre und viele Sommersprossen. Juli war ihr auf den ersten Blick sympathisch und umgekehrt war es genauso. Seitdem Micha nicht mehr auf der Schule war, verbrachte er jede Pause mit Anna und lernte mit ihr den Stoff für die Klausuren, denn auch ihr flog alles wie aus Geisterhand einfach zu, sie konnte einfach alles. Zumindest hatte Juli oft den Eindruck.
Bei allen anderen Schülern war Juli nicht sehr beliebt. Er war halt anders, der Aussenseiter, der „Spinner“. Zumindest dachten sie so, ob es stimmte interessierte sie nicht, sie wussten, früher war er mal „normal“ aber seid einigen Jahren spinnt er nur noch...
Er sah halt anders aus wie „normale“ Menschen.


-2-

Das helle Leuten der Schulglocke erlöste Juli. So schnell er konnte, schnappte er seine Sachen und verließ die Schule.
Das Burggymnasium war schon ziemlich alt und sah von außen aus wie ein Gefängnis und so fühlte sich Juli dort auch, genauso eingeschlossen wie er sich in Andersberg überhaupt fühlte. Nur wenige hundert Meter von der Schule entfernt befand sich eine kleine Kneipe. Juli begab sich, wie jeden Tag, direkt dorthin, denn hier war er nach Schulschluss immer mit Anna verabredet.
Als er die „Dorfschenke“ betrat war Anna noch nicht da. Die wenigen, ausschließlich männlichen Gäste wendeten sich von Juli ab und, als ob er gar nicht da sei, ignorierte man seinen Gruß. [i]“Tut ruhig so als gäbe es mich nicht, ich weiß ich bin euch ein Dorn im Auge, aber loswerden tut ihr mich hier nicht so einfach, seht her ich bin da“[/i], dachte sich Juli im stillem und setzte sich an den Tisch direkt in der Mitte des Raumes, dort, wo ihn einfach jeder sehen musste. „Ein Bier bitte!“ Juli trank selten Alkohol, aber heute musste er den Schulstress mit einem Bier runterspülen, heute war ihm einfach danach einfach nur zu vergessen.

Nur wenige Augenblicke später betrat Anna die Kneipe. Juli schien es, als würde ein Engel den Raum betreten, als sie die Tür öffnete. Anna stürmte mit wehenden, blonden Haaren in das Lokal, ihre Augen strahlten, sie lachte übers ganze Gesicht und in ihrem weißem Sommerkleid war Anna atemberaubend schön. Ein großes „Hallo“ ging durch die kleine Gaststätte, gefolgt von stummen Kopfschütteln, als sie Juli stürmisch und lachend um den Hals fiel. „Hey Sonnenschein, was gibt’s neues?“ lachte sie ihm entgegen. „Nichts!“ Anna kannte Julis permanente schlechte Laune nach der Schule und ignorierte sie einfach. „Stell dir vor, wir haben eben Englisch wiederbekommen und ich habe eine glatte eins geschrieben, ist das nicht phantastisch?“ Anna konnte ihre Freude kaum verbergen, sie strahlte übers ganze Gesicht. „Stell dir vor, wir haben heute Mathe zurückbekommen und ich habe eine glatte 5 bekommen, ist das nicht wieder phantastisch? Meine Eltern werden mich umbringen“ konterte Juli traurig und verbittert.
Anna setzte sich zu Julian und sah ihn an. Seine eisblauen Augen sahen traurig und hilflos auf das Bier vor ihm auf dem Tisch. Anna kannte diesen Blick, doch jedes Mal liefen ihr kalte Schauer über den Rücken. Sie vermisste den Juli, den sie vor fast drei Jahren kennen gelernt hatte, den Juli dessen Augen immer gelacht haben und der immer ein freches Grinsen auf den Lippen hatte, den Juli, der immer gegen alles rebelliert hatte ohne dabei bösartig zu werden. Anna hatte den Eindruck, als sei dieser Juli tot. Der, der nun vor ihr saß war ein anderer. Der Junge der nun vor ihr saß konnte nicht mehr lachen, er war stets traurig und deprimiert, gerade jetzt, in diesem Moment erweckte er den Eindruck, er würde jeden Moment anfangen zu weinen.

„Mensch Juli,“ sagte Anna behutsam und legte ihre Hand vorsichtig auf seine, “wir haben doch zwei Tage lang gelernt, du konntest den Stoff doch. Was war denn los, wo war den das Problem auf einmal?“ „ Ich weiß doch auch nicht,“ Julis Stimme war niedergeschlagen, „Ich komm in die Klasse, mit dem Wissen [i]Ich kann es packen[/i], habe ein richtig gutes Gefühl, doch als Herr Borgen den Aufgaben verteilt schaut er mich an und sagt mir, ich würde es doch wieder nicht schaffen.“ Verzweifelt schaut Juli zu Anna, deren Augen ihn fragend anschauen. „Ich saß da, in der Arbeit und hörte die ganze Zeit seine Worte und hatte dann selbst das Gefühl zu versagen und plötzlich wusste ich nichts mehr. Es war einfach alles weg. Ich bin ein Versager!“

„Das ist nicht war! Wir lernen weiter, bis du es verstehst und bis wir deinem Lehrer bewiesen haben das du kein Versager bist, wie er glaubt. Hast du heute Abend Zeit, dann können wir sofort beginnen?“
„Danke, das ist lieb von dir, aber gerade heute geht es nicht. Ich bin mit Micha verabredet, ich muss endlich was mit ihm klären.“ „OK, aber morgen hast du Zeit?“ „Klar“
Anna begann wieder zu lachen, sie war felsenfest davon überzeugt, das es ein Klacks sein würde Juli die Mathematik bei zu bringen. Er war nicht dumm, das wusste sie, er bräuchte nur etwas länger. „Gut, morgen machen wir uns erst einen schönen Tag und anschliessend fangen wir an zu üben. So wie du jetzt rumläufst mache ich mir wirklich sorgen um dich, ich will dich endlich wieder lachen sehen.“ Anna wusste genau, die Mathematik war nicht Julis einzigen Sorge, da waren noch mehr, aber reden wollte er nicht mit ihr drüber.
„Danke, ich hab dich lieb kleines! Ich muss los. Heute Abend meld ich mich noch mal bei dir.“ Wortlos nahm er Anna in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Wange und ging.
Annas Herz schlug dabei bis zum Hals. Noch nie hatte Juli Anna umarmt oder ihr gar einen Kuss gegeben. Seid über einem Jahr war sie in ihn verliebt ohne das irgendwer oder gar Juli davon wussten. Gerade deshalb litt sie mit Juli. Wenn er traurig war zerriss es ihr fast das Herz und so versuchte sie alles zu tun um ihm zu helfen. Wenn er sie doch nur an sich ranlassen würde.

Gegen 21 Uhr saß Anna im Vorgarten ihres Elternhauses. Es war ein lauwarmer Abend und Anna laß noch ein Buch, als sie Micha aus der Dunkelheit die Strasse hoch laufen sah. Micha wohnte nur ein paar Häuser weiter, also wunderte sie es nicht weiter als sie ihn sah. Aber Micha ging vorbei, ohne sie anzusehen oder gar zu grüßen. „Hallo Micha, du Träumer, was ist denn mit der los?“ rief sie ihm lachend zu. „Vergiss es, frag deinen Liebling Julian und lass mich in Ruhe und sag ihm, er soll mich auch in Ruhe lassen!“ Bevor Anna was antworten konnte war Micha weg. Anna saß wie angewurzelt auf ihrem Stuhl. [i]“Was war geschehen, haben sie sich gestritten, worüber bloß, was wollte Juli bloß mit Micha besprechen das er so zornig wurde??“[/i]
In Anna kam ein ungutes Gefühl auf und sie entschloss sich, wieder ins Haus zu gehen, falls Juli sie anrufen und mit ihr sprechen wolle.
Der ersehnte Anruf kam nicht, alles was Anna an diesem Abend noch hörte was das klappern vom Abwasch in der Küche und das heulen der Sirenen eines Krankenwagens ganz in der Nähe.

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